Narzissmus hat – wie ein Kaleidoskop – unzählige Facetten, die immer wieder ein neues, faszinierendes Bild ergeben.

Was ist Narzissmus?

Ob Gesellschaft, Unternehmenswelt oder Politik: In den letzten Jahren mehren sich mediale Berichte über die geistige Verfassung einflussreicher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – Musk, Trump, Putin & Co . Sie alle scheinen durch ihr ausgeprägtes Maß an Selbstüberschätzung, Manipulation und Verleumdung das Paradebeispiel einer narzisstischen Person zu verkörpern. Doch was ist Narzissmus überhaupt? In seiner wissenschaftlichen Minimaldefinition wird Narzissmus mit anmaßender Selbstwichtigkeit gleichgesetzt (engl. entitled self-importance; Krizan & Herlache, 2018). Man hält sich demnach nicht nur für übermäßig wichtig, sondern drückt dies auch unmissverständlich aus. In der akademischen Psychologie gilt Narzissmus zunächst als eine Eigenschaft, die unterschiedliche Facetten der Persönlichkeit gesunder (d. h. klinisch unauffälliger) Menschen umfasst. Diese Eigenschaft ist in der Bevölkerung genauso wie Körpergröße, Gewicht oder Intelligenz graduell verteilt. Das bedeutet, dass die meisten Menschen einen durchschnittlichen Narzissmus aufweisen, während nur wenige Menschen einen sehr niedrigen oder sehr hohen Narzissmus zeigen. Von Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft ist Narzissmus als Persönlichkeitsstörung abzugrenzen. Diese wird als narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) bezeichnet. 

Narzissmus vs. NPS: Was ist der Unterschied?

Die NPS ist durch ein anhaltendes Muster von Grandiosität, Bewunderung und mangelnder Empathie gekennzeichnet. Das Besondere an Personen mit einer NPS ist, dass sie bei Vorliegen bestimmter persönlicher Eigenschaften (z. B. Attraktivität, Intelligenz, sozioökonomischer Status) lange Zeit ihre Schattenseiten kompensieren und dadurch "unentdeckt" bleiben können (Vater et al., 2013). Das verdeutlicht einmal mehr, dass ein Mensch nie "nur narzisstisch" ist, sondern in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit wahrgenommen werden muss.

Der wesentliche Unterschied zwischen einer NPS und Narzissmus als Eigenschaft ist folgender: In der Psychologie wird Narzissmus als Kontinuum betrachtet, auf dem Menschen sich von wenig narzisstisch bis hoch narzisstisch einordnen lassen. In der Psychopathologie hingegen werden Menschen entsprechend des Erfüllungsgrades bestimmter Diagnosekriterien als "Narzisst:in" klassifiziert (oder eben nicht). Die Grenzen zwischen normalem Narzissmus und einer NPS sind dabei fließend (Vater et al., 2013).

Im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition), dem offiziellen internationalen Klassifikationssystem für psychische Störungen der APA (2013, S. 669 f.), müssen mindestens fünf von neun Kriterien erfüllt sein, um die Diagnose einer NPS stellen zu können (Zimmerman, 2023).

Diagnosekriterien für die NPS:

Im ICD-11 (International Classification of Diseases, 11. Überarbeitung), dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ist die NPS hingegen nicht als eigenständige Diagnose aufgeführt, sondern stellt lediglich eine spezifische Variante von Persönlichkeitsstörungen dar. Diese ist durch anhaltende Beeinträchtigungen in der Selbstfunktion (z. B. schwankender Selbstwert) und der interpersonellen Funktion gekennzeichnet (z. B. Rücksichtslosigkeit gegenüber den Bedürfnissen anderer; Renneberg & Herpertz, 2021).

Narzissmus kann als hierarchisch strukturierte Eigenschaft mit zwei verschiedenen Dimensionen und vier darunterliegenden Facetten verstanden werden.

In der Psychologie werden zwei grundlegende Dimensionen von Narzissmus unterschieden, die sich wiederum in vier darunterliegende Facetten zerlegen lassen (Miller et al., 2021). Narzissmus kann somit am besten als hierarchisch strukturierte Eigenschaft verstanden werden (vgl. Abbildung rechts).

Unterhalb der ersten Ebene lassen sich grandioser (großartiger oder auch offener) und vulnerabler (verletzlicher oder auch verdeckter) Narzissmus voneinander unterscheiden. Der grandiose Narzissmus spiegelt ein aufgeblasenes Selbstbild wider, das mit dem Glauben an die eigene Überlegenheit einhergeht, während sich der vulnerable Narzissmus auf eine übermäßige Sorge bezieht, von anderen verletzt zu werden, was häufig mit unrealistischen Erwartungen an andere Personen einhergeht (Miller et al., 2017). Auf der darunterliegenden Ebene befinden sich die vier Facetten des Narzissmus: agentisch, antagonistisch, neurotisch und kommunal. 

Alle eben genannten Facetten hängen eng miteinander zusammen und sind nicht als voneinander unabhängige "Typen" zu verstehen. In der Realität werden Sie nie die eine oder die andere Narzissmusfacette in ihrer Reinform erleben, sondern immer ein Konglomerat aus allen genannten, wobei durchaus eine oder mehrere besonders akzentuiert sein können. Während die agentische und kommunale Facette des Narzissmus jeweils spezifische Marker für grandiosen Narzissmus darstellen und die neurotische Facette spezifisch für den vulnerablen Narzissmus steht, ist die antagonistische Facette ein zentrales Element der Narzissmusstruktur und beiden übergeordneten Dimensionen gemeinsam (Rogoza et al., 2022).

Mythen

Es existieren zahlreichen Mythen, Vorurteile und Scheinwahrheiten rund um das Thema Narzissmus. Diese prägen nicht nur unser alltagspsychologisches Verständnis von Narzissmus, sondern sorgen auch dafür, dass eine Auseinandersetzung mit dem Thema oft verzerrt wird. Diese Fehlinformationen führen außerdem dazu, dass Narzissmus häufig einseitig betrachtet wird und das komplexe Zusammenspiel seiner verschiedenen Facetten und Dimensionen nicht erkannt wird. In meinem Buch beleuchte ich zehn Mythen, die in dem nachfolgenden Bilder-Karussel zusammengefasst sind. Viel Spaß beim Blättern!

Quellen

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